Was ist die Miradsch?
Das Wort “Miradsch” (Aufstiegsmittel, Leiter), kommt aus dem arabischen Wortstamm “uruc”, welcher soviel wie “hinaufsteigen, sich erhöhen” bedeutet. Als Begriff bezeichnet das Wort die Himmelsreise des Propheten und seine Erhebung zu Allah. Nach der traditionellen islamischen Auffassung hat sich die Miradsch in zwei Phasen vollzogen.
Die Reise des Propheten Mohammed (sav) von der al-Masdschid al-Haram in Mekka zur al-Aqsa Moschee in Jerusalem, die innerhalb einer Nacht stattfand, wird Isra genannt; seine anschliessende Himmelsreise nennt man Miradsch. Diese Unterscheidung basiert darauf, dass beide Begriffe im Koran und in den Überlieferungen vorkommen. “Isra” stammt aus dem Wort “sery”, welches “Nachtwanderung” bedeutet und ist zugleich der Name einer Sura im Koran. Laut Sura al-Isra zeigte Allah seine Allmächtigkeit, indem er seinen Diener (den Propheten Mohammed (sav)) von der al-Masdschid al-Haram zur heiligen al-Aqsa Moschee führte (al-Isra 17/1). Das Wort Miradsch ist im Koran nicht vorzufinden, doch die Pluralform Maaridsch (Steigerungsebenen, Aufstiegsstufen) wird mit Allah in Zusammenhang gebracht (al-Ma’aridsch 70/3).
Die Vorstellung einer Himmelsreise ist sowohl in der indischen und persischen Mythologie als auch im Juden- und Christentum vorzufinden.
Nach den Überlieferungen Bukharis und Muslims über die Miradsch hat das Ereignis folgendermaßen stattgefunden: Eines Nachts, als der Prophet sich bei der Kaaba, an einer Stelle namens Hidschr bzw. Hatim befand – nach manchen Überlieferungen befand er sich im (Halb-) Schlaf – kam der Erzengel Gabriel zu ihm, öffnete seine Brust, reinigte sie mit Zamzam (Wasser aus der heiligen Quelle in Mekka) und füllte sein Herz mit Glauben und Weisheit.
Er setzte ihn auf ein Reitmittel (meist als Reittier interpretiert) namens Buraq und brachte ihn zum Bayt al-Maqdis (das heilige Haus; eine andere Bezeichnung für die al-Aqsa Moschee). Der Gesandte Allahs führte in der al-Aqsa Moschee sein rituelles Gebet (Salat, türk. Namaz) aus, und als er hinauskam, bot ihm Gabriel zwei Schalen an; die eine war mit Milch, die andere mit Wein gefüllt. Als der Gesandte Allahs die Schale mit Milch wählte, sprach Gabriel “Du hast die Natur (fitra) gewählt” und führte ihn anschließend hoch in die himmlischen Sphären. Er traf in jedem einzelnen Himmel der Reihe nach die Propheten Adam, Isa, Yusuf, Idris, Harun und Musa; und schließlich begegnete er im siebten Himmel, in dem sich auch das Bayt al-Ma’mur (die Spiegelung der Kaaba im Himmel) befindet, dem Propheten Ibrahim. Als sie an einer Stelle namens Sidrat al-Muntaha (Baum der äußersten Grenze/Baum des äusseren Endes) angekommen waren, konnte er das Kritzeln der schriftführenden Engel hören. Und so trat Mohammed (sav) vor Allah. Hier erklärte Allah das rituelle Gebet fünfzig Mal am Tag für Pflicht. Bei Mohammeds (sav) Rückkehr erklärte ihm der Prophet Musa, dass seiner Gemeinschaft fünfzig Gebete täglich schwerfallen würden. Er empfahl ihm daher, Allah um eine Minderung zu bitten. Dieser Dialog und das Erscheinen des Propheten Mohammed (sav) vor Gott wiederholte sich mehrmals, bis das rituelle Gebet auf fünf Mal täglich heruntergesetzt wurde (Bukhari: Salat, 1; Tawhid, 37; Anbiya, 5; Bed’ul-khalk, 7; Manakıb, 24/ Muslim: Iman, 259, 262-263; Fazail, 164). Nach einer Überlieferung wurden dem Propheten die letzten Verse der Sura al-Baqara während der Miradsch offenbart. Es wurde ihm außerdem hier die frohe Botschaft mitgeteilt, dass denjenigen, die an Allah allein glauben und ihm nichts zur Seite stellen, vergeben wird (Musnad,I, 422; Muslim, Iman, 279).
Im Bezug auf die Miradsch gibt es bei den Hadith einige Unterschiede. Es gibt zum Beispiel unterschiedliche Auffassungen zu der Erhebung des Propheten in den Himmel. Es wird jedoch allgemein akzeptiert, dass die Isra und die Miradsch in derselben Nacht stattgefunden haben und unter Berücksichtigung sämtlicher Hadithüberlieferungen ist zu erkennen, dass Mohammed (sav) die Al-Aqsa Moschee betrat und dort als Vorbeter gemeinsam mit der Prophetengemeinschaft, mitunter den Propheten Ibrahim, Isa und Musa, betete (Muslim, Iman, 259; Ibn-i Hischam, II, 37-38). Nach einer anderen Überlieferung bezichtigten die Quraisch den Propheten der Lüge und befragten ihn hinsichtlich der Al-Aqsa Moschee, woraufhin Allah den Propheten Mohammed (sav) die Moschee sehen und so die Fragen beantworten ließ (Musnad, I, 309; Bukhari, Manaqibu’l-ansar,41).
Wann hat die Miradsch stattgefunden?
Nach der Hadithüberlieferung hat die Miradsch nach der ersten und zweiten Auswanderung nach Äthiopien, im Anschluss an den Tod Khadidschas und Abu Talibs und ein Jahr vor der Hidschra (Auswanderung nach Medina) stattgefunden. Die meisten Muslime feiern die Miradsch in der 27. Nacht des Monats Radschab.
Um welche Moschee handelt es sich bei der Al-Aqsa Moschee in der Miradsch?
In den Versen wird nicht erklärt, um welche Moschee es sich bei der Al-Aqsa Moschee in der Miradsch handelt; es wird lediglich erwähnt, dass sie sich auf heiligem Gebiet befindet. Al-Aqsa Moschee bedeutet wörtlich “weit entfernte Moschee”; Palästina, und somit auch Jerusalem, wird im Koran aber als “Adna’l-ard” (der naheste Ort) bezeichnet (al-Rum 30/3). Dies könnte darauf hindeutet, dass es sich bei der Moschee in der Miradsch um eine himmlische Moschee handelt (so z. B. M. Hamidullah, I, 93). Unter Heranziehen historischer Angaben und den Aussagen in den Koranversen kann man jedoch schlussfolgern, dass es sich hierbei um eine historisch existierende Heiligenstätte handelt. Dass es zu jener Zeit die heutige Moschee noch nicht gab, bedeutet nicht, dass es in Jerusalem keine Al-Aqsa Moschee gegeben hat und man darf auch nicht vergessen, dass die Al-Aqsa Moschee die erste Gebetsrichtung (Qibla) der Muslime gewesen ist. Nach dem Einheitsglauben der Offenbarungsreligionen ist der Ort oder das Gebäude der Gebetsrichtung (Qibla) für die Ausführung des Gebetes nur Mittel zum Zweck. Die Tatsache, dass das Gebäude über diesem Ort während Jahrhunderten zerstört und wieder errichtet wurde, oder zeitweilig nicht vorhanden war, hat keinen Einfluss auf seine geistige Bedeutung.
Hat die Miradsch physisch oder geistig stattgefunden?
Die wichtigste Auseinandersetzung hinsichtlich der Isra und der Miradsch ist die Frage, ob diese Ereignisse tatsächlich als körperliche Reise oder nur geistig, stattgefunden haben. Die Mehrzahl der Koran- und Hadithgelehrten sind der Auffassung, dass die Reise physisch und in wachem Zustand stattgefunden hat. Hätten die Isra und die Miradsch im Traum stattgefunden, würde es sich hierbei um ein normales Ereignis handeln und die Quraisch hätten nicht das Bedürfnis gehabt, es anzufechten. Demnach wird im Koranvers (al-Isra 17/1: Gepriesen sei Der, Der seinen Diener/abd des Nachts von der Masdschid al-Haram zur Masdschid al-Aqsa führte) mit dem Wort “abd” (Diener) der Prophet in seiner seelischen und körperlichen Ganzheit gemeint; eine andere Interpretation des Verses ist demnach nicht nötig. Außerdem ist mit dem Vers „und wir bestimmten das Gesicht (ruya), das wir dich sehen ließen, nur zu einer Versuchung für die Menschen …” (al-Isra 17/ 60), das optische Sehen gemeint; wäre ein Sehen im Traum gemeint, so würde man nicht von einer Versuchung sprechen. Die Gelehrten, die auch weitere unterschiedliche Überlieferungen von Khadidscha und Muawiya b. Abi Sufyan untersuchten, bewerteten diese Überlieferungen aus der Sicht der Hadithmethodologie für problematisch.
Fahreddin er-Razi verwies darauf, wie schnell sich die Sonne und die anderen Planeten trotz ihrer enormen Größe bewegen können, und behauptete, dass auf Wunsch Allahs hin auch andere Geschöpfe dieselbe Geschwindigkeit erreichen können. Er war der Auffassung, dass ein Zweifel an der Miradsch des Propheten den Zweifel an der Erscheinung Gabriels mit sich ziehen würde. Bei der physischen Auslegung der Miradsch stützen sich die Korangelehrten auf die Allmacht Allahs. Erläuterungen, die in diesem Rahmen gemacht werden, versuchen das Ereignis auf die Wahrnehmung innerhalb der menschlichen Vernunft zu reduzieren. Doch der Versuch, dieses wunderbare Ereignis, das auch in den heiligen Versen zum Ausdruck kommt, in einen vernunftbezogenen Rahmen zu setzen, ist wohl kaum möglich (Elmalılı, V, 3150).
Die Gelehrten, die die Isra als ein seelisches Phänomen betrachten, stützen sich auf die Erklärung Aischas “Der Körper des Propheten blieb beständig, er reiste im Geiste” und Muawiyas “Die Isra ist ein von Allah gegebener wahrer Traum” und auch die Tatsache, dass Hasan al-Basri diesen Erklärungen nicht widerspricht, wird ihrerseits als Argument vorgeführt (Ibn Ishaq, 275; Ibn Hischam, II, 40-41). Der Traum in der Sura al-Isra, Vers 60 beschreibt demnach das Sehen in der Vorstellung, nicht das Sehen im Traum (Suyuti, Scharhu Qissati’l-Isra, S. 55).
Ibn Kayyim hingegen konzentriert sich auf den Unterschied zwischen dem traumhaften und dem geistig-seelischen Vollzug der Miradsch. Nach seiner Auffassung meinen Aischa und Muaviye, dass dieses Ereignis nicht im Traum, sondern geistig-seelisch stattgefunden hat. Die Wahrnehmung im Schlaf basiert auf die Sinneswahrnehmung im Wachzustand; so kann er zwar sehen, dass er in den Himmel hinaufsteigt, doch seine Seele wird nicht erhoben. Eine der zwei Gruppen, die einen Aufstieg des Propheten annehmen, erkennt im Aufstieg eine körperliche und seelische Erhebung, die andere Gruppe hingegen erkennt in der Miradsch allein eine geistig-seelische Himmelsreise. Auch die zweite Gruppe behauptet nicht, dass die Miradsch im Schlaf stattgefunden hat, sondern ist lediglich der Auffassung, dass die Seele allein diese Reise erlebt hat (Zadu’l-Mead, III, 40).
Auch mehrere zeitgenössische Autoren sind der Auffassung, dass die Miradsch geistig-seelisch stattgefunden hat. Schibli Numani hält die Erklärungen derer, die eine körperliche Reise verteidigen, für schwach, und behauptet, dass das Wort „abd” in der Sura al-Isra sich auf die Seele bezieht, da der Körper einem ständigen Wandel unterliegt und die Seele allein beständig bleibt. Abgesehen von der Al-Aqsa Moschee gehören sämtliche Orte und Ereignisse in der Miradsch der Seelenwelt an. Folglich ist diese Erfahrung eine Befreiung aus der Welt der Materie und eine Reise in die geistige Welt. Schibli erklärt auch, dass eine Prüfung nicht unbedingt etwas Übernatürliches bedingt (Asr-ı Saadet, II, 438-444). Aufgrund der Worte „Ich war in einem Zustand zwischen Traum und Wachsein” ist auch Mohammed Hamidullah der Auffassung, dass diese Reise zwar bei vollem Bewusstsein, jedoch unter der Führung der Seele stattgefunden haben muss (Islam Peygamberi, I, 92).
Unter Heranziehen der jeweiligen Verse und Hadith kann man schlussfolgern, dass die Isra und Miradsch zwar geistig-seelisch stattgefunden hat, dass sie aber auch körperlich erfahren wurde. Nach der Auslegung anerkannter Quellen wie z. B. Buhari und Muslim wird die Auffassung unterstützt, dass die Miradsch seelisch stattgefunden hat. Betrachtet man die Miradsch aus der Sicht des Wunders und als eine Bekräftigung der Prophetie, so kann man darin ein wunderbares, übernatürliches Ereignis erkennen, welches der geistigen Welt des Propheten enorme Zuverlässigkeit und Kraft verleiht. Berücksichtigt man den Tod seiner Frau Khadidscha und seines Onkels Abu Talip und die physischen und psychischen Belastungen, denen der Prophet in seiner Taifreise ausgesetzt war, so ist auch deutlich zu erkennen, dass die Miradsch, die gleich im Anschluss an diese Ereignisse stattgefunden hat, eine seelische Unterstützung Allahs für seinen Propheten Mohammed (sav) gewesen ist. Diese heilige Gabe wurde so interpretiert, dass der letzte Prophet die Botschaften der Propheten, mit denen er in der Al-Aqsa Moschee gebetet hatte, vollenden werde und der rechte Glaube über alle Religionen herrschen wird (al-Fath 48/28). Diese Auslegung wurde sowohl aus der Sicht des Koran als auch geschichtlich für korrekt angesehen.
Stand der Prophet dem Allmächtigen gegenüber?
Die Begegnung des Propheten mit Allah stützt sich auf das “die Entfernung zwischen zwei Enden eines (Pfeil-) Bogens (kabe kavseyn)” nahe Zusammentreffen bei der Sidrat al-Muntaha und die darauf hindeutenden Koranverse (al-Nadschm 53/ 7-14). Mit wem diese Begegnung wirklich stattfand und wen der Prophet Mohammed (sav) in Wirklichkeit getroffen hat, wird auf zwei verschiedene Weisen interpretiert:
Khadidscha, Abdullah b. Masud, Abu Dhar al-Ghifari, Abu Hureyre, Mudschahid, Hasan-i Basri, Qatada und die meisten Korangelehrten sind der Auffassung, dass jene Begegnung zwischen dem Propheten Mohammed (sav) und dem Erzengel Gabriel stattgefunden hat.
Eine andere Auslegung ist die direkte Begegnung des Propheten mit Allah. Hierfür wird die Miradsch-Überlieferung des Scharik b. Abdullah von Anas b. Malik in den Vordergrund gestellt. Doch ist bekannt, dass der vergessliche Scharik die Überlieferung nicht vollständig aufbewahren konnte.
Nach den Überlieferungen ist die Sidrat al-munteha ein Ort, den nur die Propheten und Engel erreichen können und dessen Übertretung allein dem Propheten Mohammed (sav) bestimmt wurde. Die Islamgelehrten sind jedoch der Meinung, dass diese Begegnung eine Materialisation (tadschassum) hervorrufen würde und so selbst bei korrekter Überlieferung metaphorisch zu interpretieren ist. Die Annäherung zwischen Allah und dem Propheten Mohammed (sav) muss demnach nicht innerhalb unseres Raum- und Zeitverständnisses gelesen werden; es handelt sich hier vielmehr um eine Annäherung aufgrund des Ranges und der Stellung des Propheten, der Erhörung seiner Gebete und dank des Segens Allahs (Kadi Iyaz, I, 205). Zudem wurde die Sura al-Nadschm vor der Sura al-Isra gesandt und die Isra und Miradsch haben in derselben Nacht stattgefunden; so darf also kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Miradsch und den Versen bezüglich der Begegnung gesucht werden (Elmalılı, V, 3152).