Prinzipiell vereinigt sich sämtliche Vollkommenheit und Vollendung in Allah und manifestiert seine Heiligkeit. Hieraus resultiert, dass ihm nichts Unvollkommenes oder kein Fehler anhaften kann. Aus diesem Grunde wird jedes Wesen, je näher es Allah dem Allmächtigen ist, dem Grad seiner Nähe entsprechend, durch diese Vollkommenheit beeinflusst, und nähert sich somit ebenfalls dessen Heiligkeit. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es auch heilig/göttlich ist.(3) Kein Wesen, auch nicht die Propheten, ist "im Sinne von Allahs Heiligkeit" erhaben. Denn letztlich drückt die Heiligkeit Allahs seine "Hoheit, Erhabenheit" aus.
Infolgedessen wird im Islam, um die Vollkommenheit und die Makel- und Tadellosigkeit Allahs nicht zu beeinträchtigen, den Menschen in keinerlei Art und Weise Heiligkeit zugeschrieben. Stattdessen wurden dem Heiligsein nahestehende Begriffe wie „erhaben, geweiht, gottesfürchtig" verwendet. Islamische Quellen haben, um dies auszudrücken, in der Regel Attribute wie „weise (fazl)" oder „gesegnet (mubarak)" gebraucht. So haben sie das Idiom „Heiliger/heiliger Mensch"(4) vermieden und stattdessen Begriffe wie „weise, gesegnete Person" vorgezogen.
Im Koran steht, dass allem voran der Koran(5), manche Objekte(6) und Zeiten(7) geheiligt (mubarak) sind. Auch werden für manche Orte Attribute wie „gesegnet" (mubarak: göttlichen Reichtum, Segen, Fruchtbarkeit und Fülle besitzend) und „heilig" (mukaddas: von geistiger Unreinheit geläutert, heilig) angewandt.
Innerhalb dieser Einordnung wird dem gesegneten Ort(8) in dem das heilige Tal Tuwa(9) liegt, an dem Allah mit dem ehrwürdigen Propheten Moses sprach, und dessen heilige Erde für Moses‘ Stamm als Heimat auserwählte und dem er Fruchtbarkeit und Fülle verlieh(10) diese Eigenschaft zugewiesen. Im Koran wird außerdem hervorgehoben, dass die Umgebung der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem zu einem gesegneten Gebiet erklärt wurde; und dass der erste für den Menschen errichtete Tempel das sich in Mekka befindende gesegnete Haus (die Kaaba) ist(11). Wiederum im Koran wird darauf hingewiesen, dass die Stadt Mekka, in der sich die Kaaba, das anerkannte „Haus Allahs" befindet, und ihre Umgebung ein vor jeglichem Übergriff geschützter und sicherer Ort(12) ist.
Auf ähnliche Weise wird in den korrekt überlieferten(sahih) Hadith zur Sprache gebracht, dass die in diesen genannten Zeiten, Orte und Dinge heilig und gesegnet sind.
IM ISLAM IST ALLAH DIE QUELLE DES HEILGEN
In Bezug auf das Verständnis von Heiligkeit unterscheidet sich der Islam von den ihm vorangehenden Religionen fundamental, indem er im Gegensatz zu diesen Allah als uneingeschränkte "Quelle der Heiligkeit" betrachtet und indem er kein einziges Geschöpf im Sinne dieser, Seiner, Heiligkeit, für heilig erklärt.
Ein weiterer Unterschied zwischen dem Islam und den ihm vorangegangenen und veränderten Religionen bezüglich Heiligkeit und Weihe besteht darin, dass im Islam die Handlung der Heiligung (Weihe) eine Bedeutung und Funktion besitzt und der sich darauf beziehende Weiheprozess ist offen und rational, nicht irrational und fiktiv. Diese Weihe korrespondiert mit einem reinen Herzen, dem Verstand und der Wissenschaft. Blinde Nachahmung ist hierbei untersagt. Im Koran wird diese Grundwahrheit wie folgt umschrieben: "Und befasse dich nie mit etwas(/folge nie etwas), wovon du kein Wissen hast: wahrlich, (dein) Gehör und Augenlicht und Herz - sie alle - werden dafür (am Gerichtstag) zur Rechenschaft gezogen werden!"(13)
Unabhängig davon gibt es im Islam bei der Heiligung einer Sache nichts, das durch geheimnisvolle Verklärung, übersinnliches, jenseits der Vernunft Liegendes oder außerhalb der Erörterung Seiendes hervorgerufen wird. Selbst der Glaube stützt sich in großem Maße auf Verstehen (Erwägung, Begreifen, Nachdenken und die Kenntnis der Rechtswissenschaften) und Wissen. Die Bedingung des Koran, dass Glauben auf Wissen basieren soll, hat zum Ziel, den Menschen von Annahmen und Vorschlägen, die wider Wissenschaft und Vernunft sind, fernzuhalten und die falschen und widersinnigen Glaubensbekenntnisse der anderen zu korrigieren.(14) Im Christentum kommt der Glaube vor der Wissenschaft.(15)
In polytheistischen Religionen und primitiven Stämmen wird angenommen, dass die angebeteten Götzen bzw. Dinge nicht aus blossem Material bestehen, sondern dass in ihnen das Heilige in Erscheinung tritt und sie selbst heilig sind. Es ist offensichtlich, dass der Islam mit dieser Art der Auffassung unvereinbar ist. Im Islam ist das erschaffene Wesen nicht das unabhängige, existenzielle (ontische)"In-Erscheinung-Treten" von Allahs Vollkommenheit, sondern als das Produkt dieser Eigenschaften erschaffen. Es bezeugt Seine, Allahs, Existenz, ist also Gotteszeichen und -hinweis.
Schließlich wird im Islam unterschieden zwischen heiligen und nicht heiligen Existenzen, Zeiten, Personen, Worten und Handlungen. Nicht alles Erschaffene ist aufgrund seiner Eigenschaften als Geschöpf und Manifestation Allahs heilig. Denn es ist genauso gefährlich, alles als heilig anzusehen, wie es zu profanisieren und zu säkularisieren. Den Unterschied zwischen Heiligem-nicht Heiligem aufzuheben würde das Heilige ganz aus unserer Welt vertreiben. Das Heilige und das Religiöse dürfen auch nicht miteinander vermischt werden. Das Heilige nimmt einen speziellen und fundamentalen Platz innerhalb der Religion ein. Der Bereich des Religiösen hingegen bezieht sich, gemeinsam mit dem Glauben, auf weltliches Verhalten und darauf, ob dieses fromm und recht schaffend ist oder nicht.(16)
(1)Al-Haschr, 59/23.
(2)Al-Ikhlas, 112/1-4.
(3)Atay, Kuran'a göre Araştırmalar (Forschungen nach dem Koran), V, 130.
(4)In den beiden Hadithsammlungen von Bukhari und Muslim, dem Sahihayn, wurden in den Abschnitten über die Tugenden der Sahaba, Fezâilü'l-ashab, für diese die Bezeichnungen mübarak und fazl gewählt
(5)Al-An'am, 6/92, Al-Anbiya', 21/51.
(6)Al-Nur, 24/34.
(7)Al-Dukhan, 44/3.
(8)Al-Qasas, 28/30.
(9)Ta Ha, 20/12, Al-Nazi'at, 79/16.
(10)Al-A'raf, 7/137.
(11)Âl-i Imran, 3/39.
(12)Al-Qasas, 28/57, Al-Ankabut, 29/67.
(13)Al-Isra, 17/36.
(14)Atay, Kuran'a göre Araştırmalar (Forschungen nach dem Koran), V, 72, 73.
(15)Orhan Hancerlioğlu, Felsefe Ansiklopedisi (Enzyklopädie der Philosophie), V, 228.
(16)Campbell, Primitive Mythologie, s.35, Güler, Die Dogmatisierung der Religiösen Texte, s.307, Peter Berger, Die Soziale Realität der Religion, s.55-59 (alle Seitenangaben beziehen sich auf die türkischen Ausgaben).